Tiere vom Rinschbachtal

HERR DER PFERDE

 

Der Herr der Pferde !


Für jedes Pferd steht im Paradies ein große
Truhe mit tausend goldenen Perlen.
Behandeln die Menschen das Pferd auf der Erde gut,
wird bei jeder Wohltat eine Perle herausgenommen.

Wenn das Pferd gestorben ist und auf die
ewige Weide kommt, zählt der Herr der Pferde
die übriggebliebenen Perlen.
Wer bei den Menschen Schlimmes erlebt hat,
wird dann für die schlechte Erdenzeit entschädigt.

Eine schöne Holsteiner Schimmelstute kam
eines Nachmittags am Gatter des Paradieses
an. „Deine Truhe ist fast leer”, sagte der
Herr der Pferde, „du musst ein gutes Leben
gehabt haben.”
Die Stute nickte bedächtig.
“Meine Besitzer haben alles für mich getan.
Als ich Probleme mit den Hufen bekam, haben
sie mich auf die Weide gestellt, damit meine
Beine geschont wurden.
Sie haben dafür gesorgt, dass ich jeden Tag laufen und
toben konnte, und so wurde ich mit ihnen zusammen
sehr alt.
Und als die Stunde des Abschieds
gekommen war, sind sie bis zur letzten
Minute an meiner Seite geblieben.”
Die Stute schwieg einen Moment.
„Ja, ich habe es sehr gut gehabt da unten.”
„Such dir eine Weide aus”, schlug der Herr
der Pferde vor. „Ich brauche keine große
Wiese”, entgegnete die Stute,
„gib die großen Weiden meinen Kollegen, die auf der Erde
nicht so viele gute Tage gesehen haben.”

Als nächstes stand ein großer Friesenwallach
vor dem Paradies-Gatter. Auch er war sehr,
sehr alt. So alt, dass seine schwarze Mähne
grau geworden war, was man nur ganz selten
sieht.
„Auch bei dir finde ich nur noch
wenige Perlen in der Truhe”, sagte der Herr
der Pferde. „Ich habe es sehr gut gehabt”,
sagte der Friese. „All die Jahre bin ich mit
Liebe umsorgt worden. Und als die Stunde des
Abschieds kam, ist mein Mensch bis zur
letzten Minute an meiner Seite geblieben.”

Dann kamen zwei braune Schulpferde
angetrabt.
„Wie ist es euch ergangen in der
Reitschule?”, fragte der Herr der Pferde.
„Ich wundere mich, dass ich in eurer Truhe
nur noch wenige Perlen sehe.” „Das muss dich
nicht wundern”, sagten die Schulpferde,
„unser Stallbesitzer hat uns helle Boxen
bauen lassen, statt sich ein neues Auto zu
kaufen. Weil wir bessere Trensen brauchten,
hat er sogar auf den Urlaub verzichtet.”
„Gab es denn nie Reitschüler, die hässlich
zu euch waren?” - „Manchmal schon”, gaben die
Schulpferde zu. „Aber die Liebe der Kinder
hat uns immer wieder Mut gemacht.” Die
Braunen sahen den Herrn der Pferde an und
sagten: „Wir haben es wirklich gut gehabt da
unten. Und als die Stunde des Abschieds kam,
hat uns der Stallbesitzer auf unserem
letzten Weg begleitet.”

Ein zierlicher, schwarzer Traberwallach kam
jetzt auf das Paradies zu, kaum älter als
vier Jahre. Sein Fell glänzte wie Seide,
aber
seine Augen waren müde und ohne Glanz.
„Warum bist du hier, mein Freund?”, fragte
der Herr der Pferde. „Du bist noch zu jung
zum Sterben.”
„Ich war keine gute Geldanlage”, antwortete
der Traber. „Auf der Trabrennbahn war ich zu
langsam. Sosehr ich mich anstrengte, ich
konnte nicht schneller laufen. Mein Besitzer
sagte, ich sei zu teuer zum Durchfüttern und
hat mich zum Schlachter bringen lassen.”
Der Herr der Pferde öffnete die Truhe des
Trabers und fand sie noch fast gefüllt bis
zum Rand. „Das muss ein trauriges Leben
gewesen sein”, sagte er, „hast du nicht
einmal eine schöne Kindheit gehabt?”
„Kindheit - was für ein wundervolles Wort”,
sagte der Traber versonnen. „Was bedeutet
es?”
„Kindheit”, sagte der Herr der Pferde, „das
heißt mit anderen Fohlen über Wiesen
galoppieren, im Spiel die Kräfte messen,
sich
wälzen und in Seen baden, seinen Platz in
der
Herde suchen und Freunde finden. Man lässt
doch die Pferde drei Jahre lang Kind sein,
bevor die Arbeit beginnt. Hast du das nicht
erlebt?”
„Nein”, sagte der Traber, “für mich fing das
Training mit einem Jahr an. Sie haben mir
den
Kopf mit Lederriemen zurückgezogen und die
Zunge festgebunden, damit ich nicht
galoppieren konnte. Als ich zu langsam war,
haben sie mich mit Peitschen aus
Stacheldraht
geschlagen.” „Warum tun sie das?”, fragte
der
Herr der Pferde zornig. „Man kann viel Geld
mit Wetten auf der Trabrennbahn verdienen”,
sagte der Traber, „mit einem schellen Traber
kann man reich werden. Ich war leider ein
schlechtes Geschäft.”
Da führte der Herr der Pferde den kleinen
Traber auf die große Paradiesweide mit Seen,
die gefüllt war mit schimmerndem
Himmelstaub,
mit Plätzen aus goldenem Sand zum Wälzen und
endlosen Wiesen zum Galoppieren. Alle Traber
und die anderen Pferde, die von ihren
Besitzern als Sportgerät missbraucht worden
waren, vergnügten sich darauf. Fasziniert
blieb der Traber stehen. „Ist das
Kindheit?”,
fragte er entzückt. „Lauf los und genieße
sie”, sagte der Vater der Pferde.

Er war voller Empörung über die Menschen,
aber es kam noch schlimmer. Ein polnisches
Schlachtpferd schleppte sich auf das
Paradies
zu, ein Bild des Jammers. Ein gebrochenes
Bein hing schlaff herab, Blut sickerte aus
vielen Wunden im Gesicht und an der
Schulter.
Das Maul war grausam geschwollen, weil das
Pferd sich im Pferdetransporter halb
wahnsinnig vor Durst die Zunge an den Wänden
wund geleckt hatte.
Als der Herr die Truhe des Schlachtpferdes
öffnete, fehlte nicht eine einzige Perle.
„Wer hat es zugelassen, dass man dich so
quält?”, fragte er erzürnt.
„Die Politiker”, antwortete das
Schlachtpferd
mit matter Stimme. „Sie könnten die Gesetze
ändern, aber es interessiert sie nicht. Es
geht nur ums Geld. Man verdient viel mehr,
wenn man Pferde von Polen zum Schlachten bis
nach Südfrankreich oder Italien bringt.”
Der Herr der Pferde führte das Schlachtpferd
auf seine größte und schönste Weide mit
klaren, frischen Wasserquellen und Kräutern,
die jede Wunde heilen. „Was ist das für ein
prächtiger, goldener Ball über der Weide?”,
wollte das Schlachtpferd wissen.
„Das ist die Sonne. Kennst du sie nicht?”
„Nein. Aber ich habe die Menschen davon
reden
hören”, sagte das Schlachtpferd glücklich
und
ging zu den Quellen, um seinen Durst zu
löschen.
Da versammelten sich die Privat- und
Schulpferde, die es gut gehabt hatten auf
der
Erde, und sagten zum Herrn der Pferde: „Es
ist gut, dass unsere armen Freunde es hier
so
paradiesisch haben. Aber kommen ihre
Peiniger
ungeschoren davon?”

“Sie bekommen ihre gerechte Strafe.”
„Welche?”, wollten die Pferde wissen. „Sie
müssen als Pferd zurück auf die Erde. Dort
haben sie das Gleiche zu erdulden wie die
Tiere, die sie gepeinigt haben.”
Der Herr der Pferde winkte ihnen, ihm zu
folgen. Sie gingen lange Zeit über einen
schmalen Pfad, bis sie an einen großen Platz
gelangten, auf dem eine gewaltige Waage
aufgebaut war. Jeder Mensch wurde vor diese
Waage gerufen, und es wurden zwei Fragen
gestellt. Ein Rennstallbesitzer stand gerade
vor dem höchsten Gericht.
„Wer hat etwas Gutes über ihn zu
berichten?”,
hieß die erste Frage. Es fanden sich einige,
die auf der Trabrennbahn gewonnen hatten,
die
mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatten, und
sein Kampfhund, der von ihm gut behandelt
worden war. Dann kam die zweite Frage: „Wer
von den Trabern hat etwas gegen ihn
vorzubringen?”
Da galoppierten alle seine Traber heran.
Die,
die hohe Preise gewonnen hatten und die, die
er zum Schlachter geschickt hatte.
„Was habt ihr ihm vorzuwerfen?”, fragte der
Richter. „Er hat uns die Kindheit
gestohlen”,
klagten die Traber. Sie stiegen auf die
andere Waagschale und drückten sie mit ihrem
Gewicht ganz nach unten.

Danach sahen die Pferde einen Politiker vor
dem Gericht. Er fand eine ganze Anzahl von
Menschen, die für ihn aussagten.
„Er wird sich geschickt herausreden - wie
auf
der Erde”, befürchteten die Pferde, „da sind
viele, die er mit Geld bestochen hat und die
ihm wichtige Posten zu verdanken haben.
Mindestens fünfzig Menschen. Wer wird gegen
ihn aussagen?”
„Fünfzigtausend Schlachtpferde”, sagte der
Herr der Pferde, „er wird keine Chance
haben...”

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